Luc und Jay - fünf vor zwölf

Natürlich gab es keine freie Lücke auf dem Parkplatz vor Pedros Strandbar. Das war der perfekte Abschluss eines Tages, an dem Jay DeGrasse morgens besser niemals sein Bett verlassen hätte. Bereits eine Stunde nach dem Frühstück, das aus einem Becher Kaffee im Wagen bestanden hatte, waren ihm und seinem Team Kugeln um die Ohren geflogen. Wenn sich das wenigstens gelohnt hätte, aber am Ende hatten sie feststellen müssen, dass sie sich mit einer Gruppe Junkies ein erbittertes Feuergefecht um eine leere Lagerhalle geliefert hatten. Und das war erst der Anfang gewesen . Am Nachmittag hatte er von der überraschenden Versetzung seines Chefs erfahren. Damit wäre er noch klargekommen, aber jetzt drohte ihm eine Frau als Vorgesetzte, die ihren Ruf als Theoretikerin schon bewiesen hatte. Großartig, genau das hatte ihm noch gefehlt. Als ob er nicht genug Probleme hatte. Allmählich dachte e r ernsthaft darüber nach, seinen Job als FBI-Agent an den Nagel zu hängen. Leider fiel ihm kein Beruf ein, den er lieber ausüben würde – meistens. Ein erster Lichtblick: Der Wagen seines Bruders parkte auf dem Sandweg. Wenn er seinen Toyota daneben abstellte, kam Luc zwar nicht mehr weg, aber das interessierte ihn im Moment nicht. Er brauchte dringend ein kaltes Bier, ein vernünftiges Essen und Gesellschaft, die ihn auf andere Gedanken brachte. Aus Pedros Strandbar drang die übliche Mischung aus Gesprächsfetzen und spanischer Musik, die ein altersschwaches Radio von sich gab. Wie immer reichte der Platz im Inneren nicht, und einige Gäste genossen vor der Bar oder direkt am Strand ihr Essen. Pedros Kochkünste galten mit Recht als Geheimtipp, und das Innere der Bar bot nicht genug Platz für die Menge an Stammgästen, die seine mexikanischen Gerichte zu schätzen wussten. Die Speisekarte enthielt jeden Abend nur ein Gericht, das viel zu schnell ausverkauft war. Jay befürchtete schon, dass er zu spät war, aber zum zweiten Mal a n diesem Tag hatte er Glück. Mit einer Flasche Bier und einer Schale von Pedros berühmtem Chili con Carne in der Hand sah er sich suchend um und entdeckte in einiger Entfernung seinen Bruder am Strand. Unwillkürlich pfiff Jay leise durch die Zähne. Lucs Miene ließ darauf schließen, dass es auch für ihn kein besonders angenehmer Tag gewesen war. Mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt, er sein Chili und blickte dabei grimmig auf den Pazifik. Als Jay sich neben seinen Bruder setzte, hatte dessen Begrüßungslächeln etwas Gezwungenes. Auch Lucs nasse Haare waren ein Warnsignal. Schon als Kind hatte sein Bruder bei Problemen Zuflucht in langen Schwimmausflügen gesucht. Durch seine Vorliebe für das Meer hatte es niemanden erstaunt, dass e r schließlich bei den US Navy SEALs als Teamchef gelandet war. Luc musterte Jays Anzughose spöttisch. „Bin ich froh, dass mir wenigstens das erspart bleibt, Special Agent.“ „Als ob deine Uniform besser wäre, Lieutenant. Wo steckt Scott?“ Eigentlich waren sie zu dritt verabredet gewesen. Scott war nicht nur Lucs Stellvertreter im Team, sondern mit ihnen beiden eng befreundet. „Bereitet unseren Abflug morgen früh vor. Kabul und dann weiter ins pakistanische Grenzgebiet.“ Jay blieb beinahe das Chili im Hals stecken. Kein Wunder, dass Luc genervt war. Sein Team war erst seit drei Wochen zurück aus Afghanistan. Luc hatte damit gerechnet, dass sie mindestens sechs Monate in San Diego bleiben würden, ehe sie wieder los mussten. „Gibt es irgendeinen besonderen Anlass?“ „Keine Ahnung. Der Befehl kam gestern Abend völlig unerwartet.“ „Ein klares Zeichen, dass ihr zu gut seid.“ Lucs Grinsen erreichte nicht annähernd seine Augen, und Jay konnte es ihm nicht verdenken. Vermutlich lag es tatsächlich daran, dass Luc fließend Paschtu sprach und trotz seiner blauen Augen bei Bedarf mühelos als Afghane durchging. Das änderte jedoch nichts daran, dass er und seine Jungs nach Monaten in Staub und Dreck eine längere Auszeit verdient hätten. Trotzdem war die Reaktion ungewöhnlich, normalerweise freute sich Luc über jeden Auftrag, der ihn nach Afghanistan führte. Ana, die afghanische Haushälterin der Familie, war für die Brüder wie eine zweite Mutter. Durch Ana hatten sie schon als Kinder das Land und die Gebräuche kennen und schätzen gelernt. „Bist du nur gefrustet wegen des unerwartet frühen Einsatzbefehls, oder ist da noch mehr?“ Luc seufzte tief. „Vermutlich werde ich alt. Nenn’ es einfach ein schlechtes Gefühl.“ Bei Lucs Worten lief e s Jay kalt den Rücken runter. Er war zwar nicht besonders abergläubisch, vertraute aber dem Instinkt seines Bruders bedingungslos. „Dann pass da unten bloß auf dich auf, Großer.“ Lächelnd winkte Luc ab. „Es geht eher darum, dass ich das Gefühl habe, hier in San Diego spielt jemand sein Spielchen mit uns, und ich weiß nicht, was dahinter steckt. Vergiss das Ganze. Was ist mit dir?“ „Die Langform oder die Kurzfassung?“ „Kurzfassung. Ich will noch eine Runde mit dem Boot drehen. Kommst du mit?“ Es gab nichts Besseres als ein Sixpack Bier und eine Runde mit Lucs Speedboot, während die Sonne im Pazifik versank, um den Tag hinter sich zu lassen. „Natürlich bin ich dabei. Dann also die kurze Version: Der Tipp mit dem Drogenlabor wa r ein Hinterhalt. Und dann ist mein Chef versetzt worden, und man hat mir seinen Job angeboten. Solange ich aber nicht weiß, warum mein Team dauernd ins Leere läuft, kann ich das Angebot nicht annehmen. Dafür bekomme ich jetzt eine Vorgesetzte, die sich mit Vorschriften auskennt, aber keinerlei praktische Erfahrung hat. Ihre erste Frage in unserer Videokonferenz war, ob ich eigentlich keine Krawatte habe.“ Luc legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. Gespielt beleidigt zog Jay die Stirn kraus. „Hey, das ist nicht witzig.“ „Warum probierst du es nicht mit deinem berühmten Charme?“ „Weil ich mir bei der Eiskönigin Erfrierungen holen würde.“ Luc hob sein Bier zu einem Gruß. „Klingt, als ob die nächsten Wochen interessant werden.“ Mit einem Klirren traf Jays Flasche auf die seines Bruders. „Das gilt wohl für uns beide.“
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Luc und Jay - fünf vor

zwölf

Natürlich gab es keine freie Lücke auf dem Parkplatz vor Pedros Strandbar. Das war der perfekte Abschluss eines Tages, an dem Jay DeGrasse morgens besser niemals sein Bett verlassen hätte. Bereits eine Stunde nach dem Frühstück, das aus einem Becher Kaffee im Wagen bestanden hatte, waren ihm und seinem Team Kugeln um die Ohren geflogen. Wenn sich das wenigstens gelohnt hätte, aber am Ende hatten sie feststellen müssen, dass sie sich mit einer Gruppe Junkies ein erbittertes Feuergefecht um eine leere Lagerhalle geliefert hatten. Und das war erst der Anfang gewesen . Am Nachmittag hatte er von der überraschenden Versetzung seines Chefs erfahren. Damit wäre er noch klargekommen, aber jetzt drohte ihm eine Frau als Vorgesetzte, die ihren Ruf als Theoretikerin schon bewiesen hatte. Großartig, genau das hatte ihm noch gefehlt. Als ob er nicht genug Probleme hatte. Allmählich dachte e r ernsthaft darüber nach, seinen Job als FBI-Agent an den Nagel zu hängen. Leider fiel ihm kein Beruf ein, den er lieber ausüben würde – meistens. Ein erster Lichtblick: Der Wagen seines Bruders parkte auf dem Sandweg. Wenn er seinen Toyota daneben abstellte, kam Luc zwar nicht mehr weg, aber das interessierte ihn im Moment nicht. Er brauchte dringend ein kaltes Bier, ein vernünftiges Essen und Gesellschaft, die ihn auf andere Gedanken brachte. Aus Pedros Strandbar drang die übliche Mischung aus Gesprächsfetzen und spanischer Musik, die ein altersschwaches Radio von sich gab. Wie immer reichte der Platz im Inneren nicht, und einige Gäste genossen vor der Bar oder direkt am Strand ihr Essen. Pedros Kochkünste galten mit Recht als Geheimtipp, und das Innere der Bar bot nicht genug Platz für die Menge an Stammgästen, die seine mexikanischen Gerichte zu schätzen wussten. Die Speisekarte enthielt jeden Abend nur ein Gericht, das viel zu schnell ausverkauft war. Jay befürchtete schon, dass er zu spät war, aber zum zweiten Mal a n diesem Tag hatte er Glück. Mit einer Flasche Bier und einer Schale von Pedros berühmtem Chili con Carne in der Hand sah er sich suchend um und entdeckte in einiger Entfernung seinen Bruder am Strand. Unwillkürlich pfiff Jay leise durch die Zähne. Lucs Miene ließ darauf schließen, dass es auch für ihn kein besonders angenehmer Tag gewesen war. Mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt, er sein Chili und blickte dabei grimmig auf den Pazifik. Als Jay sich neben seinen Bruder setzte, hatte dessen Begrüßungslächeln etwas Gezwungenes. Auch Lucs nasse Haare waren ein Warnsignal. Schon als Kind hatte sein Bruder bei Problemen Zuflucht in langen Schwimmausflügen gesucht. Durch seine Vorliebe für das Meer hatte es niemanden erstaunt, dass e r schließlich bei den US Navy SEALs als Teamchef gelandet war. Luc musterte Jays Anzughose spöttisch. „Bin ich froh, dass mir wenigstens das erspart bleibt, Special Agent.“ „Als ob deine Uniform besser wäre, Lieutenant. Wo steckt Scott?“ Eigentlich waren sie zu dritt verabredet gewesen. Scott war nicht nur Lucs Stellvertreter im Team, sondern mit ihnen beiden eng befreundet. „Bereitet unseren Abflug morgen früh vor. Kabul und dann weiter ins pakistanische Grenzgebiet.“ Jay blieb beinahe das Chili im Hals stecken. Kein Wunder, dass Luc genervt war. Sein Team war erst seit drei Wochen zurück aus Afghanistan. Luc hatte damit gerechnet, dass sie mindestens sechs Monate in San Diego bleiben würden, ehe sie wieder los mussten. „Gibt es irgendeinen besonderen Anlass?“ „Keine Ahnung. Der Befehl kam gestern Abend völlig unerwartet.“ „Ein klares Zeichen, dass ihr zu gut seid.“ Lucs Grinsen erreichte nicht annähernd seine Augen, und Jay konnte es ihm nicht verdenken. Vermutlich lag es tatsächlich daran, dass Luc fließend Paschtu sprach und trotz seiner blauen Augen bei Bedarf mühelos als Afghane durchging. Das änderte jedoch nichts daran, dass er und seine Jungs nach Monaten in Staub und Dreck eine längere Auszeit verdient hätten. Trotzdem war die Reaktion ungewöhnlich, normalerweise freute sich Luc über jeden Auftrag, der ihn nach Afghanistan führte. Ana, die afghanische Haushälterin der Familie, war für die Brüder wie eine zweite Mutter. Durch Ana hatten sie schon als Kinder das Land und die Gebräuche kennen und schätzen gelernt. „Bist du nur gefrustet wegen des unerwartet frühen Einsatzbefehls, oder ist da noch mehr?“ Luc seufzte tief. „Vermutlich werde ich alt. Nenn’ es einfach ein schlechtes Gefühl.“ Bei Lucs Worten lief e s Jay kalt den Rücken runter. Er war zwar nicht besonders abergläubisch, vertraute aber dem Instinkt seines Bruders bedingungslos. „Dann pass da unten bloß auf dich auf, Großer.“ Lächelnd winkte Luc ab. „Es geht eher darum, dass ich das Gefühl habe, hier in San Diego spielt jemand sein Spielchen mit uns, und ich weiß nicht, was dahinter steckt. Vergiss das Ganze. Was ist mit dir?“ „Die Langform oder die Kurzfassung?“ „Kurzfassung. Ich will noch eine Runde mit dem Boot drehen. Kommst du mit?“ Es gab nichts Besseres als ein Sixpack Bier und eine Runde mit Lucs Speedboot, während die Sonne im Pazifik versank, um den Tag hinter sich zu lassen. „Natürlich bin ich dabei. Dann also die kurze Version: Der Tipp mit dem Drogenlabor wa r ein Hinterhalt. Und dann ist mein Chef versetzt worden, und man hat mir seinen Job angeboten. Solange ich aber nicht weiß, warum mein Team dauernd ins Leere läuft, kann ich das Angebot nicht annehmen. Dafür bekomme ich jetzt eine Vorgesetzte, die sich mit Vorschriften auskennt, aber keinerlei praktische Erfahrung hat. Ihre erste Frage in unserer Videokonferenz war, ob ich eigentlich keine Krawatte habe.“ Luc legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. Gespielt beleidigt zog Jay die Stirn kraus. „Hey, das ist nicht witzig.“ „Warum probierst du es nicht mit deinem berühmten Charme?“ „Weil ich mir bei der Eiskönigin Erfrierungen holen würde.“ Luc hob sein Bier zu einem Gruß. „Klingt, als ob die nächsten Wochen interessant werden.“ Mit einem Klirren traf Jays Flasche auf die seines Bruders. „Das gilt wohl für uns beide.“